Moral. Kaum ein zweiter Begriff ist derzeit so heiß umkämpft. Eine auf moralischen Fortschritt pochende Wokeness-Fraktion, so scheint es, steht Liberalen und Rechten gegenüber, die in der Aufrichtung neuer moralischer Tabus eine Bedrohung von Demokratie und Freiheit sehen. Man versteht einander nicht mehr, will es wohl auch gar nicht. Die Debatte über Moral ist entgleist – nicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte. Doch was ist überhaupt Moral? Wie fanden die am Überleben interessierten Menschen zu ihr? Welche Rolle spielten Biologie, Religion, Kultur? Welche Etappen hat die Entwicklung durchlaufen, seit sie vor erstaunlichen fünf Millionen Jahren begann? Der Philosoph Hanno Sauer hat der Moral und ihrer langen Geschichte ein fulminantes Buch gewidmet: „Moral. Die Erfindung von Gut und Böse“. Im Gespräch mit Ulrich Kühn erzählt er, wie alles begann, warum er im Buch die Religionen mit polemischen Seitenhieben bedenkt, was in der Debatte der letzten Jahre schiefgelaufen ist – und warum er selbst sorgsam und raffiniert darauf achtet, in den aktuellen Gegenwartskämpfen nicht ausrechenbar zu sein.